Favelas
Ein Urbanismus für die „informelle Stadt“

 

 
 


Croquis Kassel, Jorge Mario Jáuregui

Sollte die Informationstechnik das Potential geographischer Zerstreuung weiter erhöhen, wird die globale Weltwirtschaft eine Logik der Konzentration, die Orte mit enormer Infrastruktur, Arbeitskraft und spezifischen Einrichtungen benötigt, durchsetzen. Dieses, die zeitgenössischen Städte kennzeichnende Paradox, erfordert neue organisatorische Fähigkeiten, neue Technologien und neue Wachstumsbranchen. In Lateinamerika scheint dieses Phänomen neue Zentren wie auch den Anstieg der sozialen Ausgrenzung herbeizuführen. Die offensichtlichste Demonstration dieses Phänomens ist die Hervorbringung einer geteilten Stadt, geteilt in einen „formellen Sektor“, der aus einem Zentrum, Sub-Zentren und den Stadtvierteln besteht, und einen „informellen Sektor“ aus den Favelas und der Peripherie. Diese Spaltung der Stadt führt zu einem starken städtischen Trauma. Ein Trauma, das nach Freud zu einem Verlust in den Beziehungen des Subjekts zum Anderen führt.

Die Wirklichkeit ist so gesehen ein unzulässiger Exzess, der sich in Symptomen der Bekommenheit und der Angst äußert. Allerdings existieren bestimmte geschichtliche Momente, die dieses Unzulässige hervorbringen. Aus diesem Grund muss man, dank sinnvoller städtischer Eingriffe, diejenigen Projekte fördern, die Verbindungen erlauben und Verknüpfungen von Unterschieden, sobald sie untragbar werden, ermöglichen. Wenn ein Defizit – das unzulässige Trauma, das die geteilte Stadt ist – konstatiert wird, erscheint es notwendig, die Verbindungen wiederherzustellen, indem man mit einer Strukturierung beginnt, die in der Lage ist, das Strategische – die langfristig betrachtete urbane Frage – mit taktischen, punktuellen und spezifischen Interventionen, die auf die größten Notfälle antworten können, zu verbinden.

Die Vielfältigkeit des aktuellen Prozesses hängt mit der territorialen Zerstreuung der Personen, mit ökonomischen und kulturellen Praktiken und mit seinem städtischen Symptom: dem Anstieg des „informellen Sektors“ zusammen. Dies spiegelt sich in der Besetzung des öffentlichen Raumes und der Räume mit unklaren Besitzansprüchen, wie der Bürgersteige, der Plätze, Straßen und der Brachen, durch alle Arten von „Illegalen“ wieder.
Und in diese Richtung orientieren sich die Forderungen nach Umstrukturierung in den großen lateinamerikanischen Städten. Hochkomplexe Organisationen, in denen sich die unterschiedlichsten Logiken kreuzen, erfordern ein Konzept der Planung und Entwicklung, das direkt verbunden ist mit der Stadtplanung und der Wohnungsbaupolitik. Eine solche Planung muss in der Lage sein, Fragen der Infrastruktur, der Landschaft und der Umwelt mit den sozialen Fragen, den kulturellen, ökonomischen, existentiellen Bereichen sowie dem Bereich der Sicherheit der Einwohner zu verbinden. Gleichzeitig muss der ökologische Aspekt in Einklang mit Felix Guattari in den drei Dimensionen: dem Mentalen, dem Sozialen und dem Umweltschutz, betrachtet werden.

Das Problem der Verknüpfung / Hybridisierung des Formellen und des Informellen in Lateinamerika

Im heutigen Kontext muss sich die Integrationspolitik in die Stadtplanung einschreiben. Eine solche Politik muss den Kampf gegen die Ausgrenzung sowie die Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung als grundsätzlichste Aufgaben beinhalten. Dieser Ansatz erfordert die Betrachtung der Stadtstruktur als ein Ganzes und des Problems der Verbindungen der beiden Teile – „formell“ und „informell“ – als Kernfrage. Der Zugang zum städtischen Leben für die Mittellosen muss so zum entscheidenden Faktor für die staatliche Politik gemacht werden.

In lateinamerikanischen Städten ist der Anteil der „informellen Stadt“ in einigen Fällen höher als der der „formellen Stadt“. In Caracas sind 60% der Stadt „informell“, in Lima sind es 70% der Stadtfläche. In den meisten anderen Städten variiert der Prozentsatz zwischen 30% und 50%. So in den Städten der beiden größten Länder des südamerikanischen Kontinents: Mexiko und Brasilien.

Von der staatlichen Politik muss in der Frage der Stadtplanung – die die Wohnungsbaupolitik enthalten muss – ein weiterer wichtiger Bestandteil berücksichtigt werden: der Beitrag, den sie zur Beteiligung der Bewohner leisten kann. Um effektiv zu sein, ist es unumgänglich, Integration durch Programme zu fördern, die Arbeit und Ressourcen erzeugende Initiativen hervorbringen. Am effizientesten und direktesten wird dies durch eine Stadtplanungs- und Wohnungsbaupolitik, die alle Schichten der Gesellschaft erreicht.

Dennoch muss eine gut strukturierte Politik der städtischen Integration notwendigerweise sowohl die quantitativen Aspekte der Kosten und der Dimensionierung als auch die qualitativen Aspekte – zu denen die Schaffung eines für die Integration und für die soziale Beteiligung hilfreichen Rahmens gehört, mit höchst unterschiedlichen Dienstleistungen und Ausstattungen und mit einem hohen Grad an ästhetischer Ausarbeitung – in Betracht ziehen.

Es geht daher nicht nur um den Bau einer bestimmten Anzahl von Wohnungen, um das Problem der Wohnungsnot zu lösen, sondern darum, mit einem Konzept der Stadt zu arbeiten, in dem Vielheit und Unterschiedlichkeit individuelle Räume erlauben und aufwerten. Wo es möglich ist, sich als integraler Teil des Viertels zu fühlen, und gleichzeitig seinen eigenen Platz, seine kleine Nische, seinen Ort der Ruhe zu finden, und wo jeder die Möglichkeit hat, sich, nach seinen Wünschen und Bedürfnissen, abzutrennen oder anzuschließen.

Die Stadtplanung darf nicht nur rein ökonomisch betrachtet werden, sondern muss als Mittel zur Konstruktion der physischen Umgebung und gleichzeitig als Mittel zur Schaffung eines Rahmens, der für das Leben in der Gemeinschaft förderlich ist, gesehen werden. Dies geht über opportunistische Aktionen hinaus, die nur ein Dach über dem Kopf schaffen und ein Minimum oder Basis-Bedürfnisse befriedigen wollen.

Unterricht in informellem Urbanismus

Die Sozialwissenschaften richten ihren Blick heutzutage auf die Städte, da diese das Profil der neuen politischen Akteure prägen. Die Frage der Wohnverhältnisse spielt darin eine fundamentale Rolle. Die problematische Aufgabe, „globale Städte“ zu verwalten, steht in direkter Verbindung mit den Gefahren, die die Bewohner dieser Städte ängstigen. Und aus diesem Grund versteht man die allgemeinen sozio-ökonomisch-kulturellen Prozesse mehr und mehr durch die Forschung über die reale Stadt.

Die informelle Ökonomie ist auf der ganzen Welt dabei, eines der Merkmale des neuen Jahrtausends zu werden. Während wir über ausgefeilte Technologien verfügen, mit denen wir Bilder und Informationen manipulieren können, schaffen wir es immer noch nicht, einen großen Teil der Weltbevölkerung den Zugang zu Wasser, Infrastruktur, Nahrung oder Arbeit zu garantieren. Dies liegt an einer Entwicklungsarbeit, die sich an ökonomischen Modellen orientiert und deren Ziel nicht die Verbesserung des sozialen Wohlergehens ist (wie zum Beispiel für sozial schwache Gruppen Wohnungen zu garantieren, auch wenn dies nicht profitversprechend ist).

Der Prozess der informellen Urbanisierung ist in diesem Zusammenhang zum wichtigen Merkmal des Städtebaus in Lateinamerika geworden. Diese Urbanisierungsform ist die Norm geworden und nicht länger die Ausnahme. Um diesen Vorgang umleiten zu können, werden neue Ansätze sowie neue Konzepte und Methoden, wie auch neue Formen der Verwaltung und der Artikulierung auf öffentlich-privat-kommunaler Ebene benötigt. Dieses Phänomen (des informellen Städtebaus) ist gekennzeichnet durch Besetzung des Bodens, mangelhafte Zugangsbedingungen, Nichtexistenz von Eigentumsurkunden, den Mangel an Einrichtungen und Dienstleistungen und durch einen unterschiedlichen hohen Grad der Prekarität der Wohnverhältnisse. Es gibt aber eine hohe Beteiligung der Bewohner.

Andererseits bezieht sich die „Informalität“ nicht nur auf Eigenkonstruktion, sondern auch fast immer auf die Erschließung verschiedener Räume für den gemeinschaftlichen Gebrauch und für eine fragmentarische Infrastruktur. Und diese Informalität beschränkt sich nicht allein auf die Arbeiterklasse, wie es die Beispiele der neuen Viertel in Santa Fé/ Mexiko und Barra da Tijuica in Rio de Janeiro zeigen.

Einige wesentliche Merkmale „des Städtebaus in der Informalität“ sind:

Die soziale und politische Dimension: In der Logik der informellen Stadt das Städtische zu denken, impliziert einen Ansatz, der in der Lage ist, sich der Realität, dem Alltag und dem Gebauten gemäß zeitlich flexiblen Taktiken und Strategien anzunähern, gleichzeitig langfristig und kurzfristig zu arbeiten, auf aktuelle Notfälle zu reagieren und eine Vision der Artikulation und des strategischen Vorgehens zu suchen, in einer Folge von ganz unterschiedlichen komplementären Aktionen.

Die Kombination der Strategien: eine unübliche Kombination kurzfristiger und langfristiger Strategien sollte das Verhältnis zwischen den Bedürfnissen und den Möglichkeiten verbessern. Der Bau einer Grundstruktur zum Leben oder zum Beispiel einer Kantine kann in zwei Tagen geschafft werden, andererseits kann der Übergang von einem Unterschlupf in eine Wohnung Jahrzehnte dauern. Dies zwingt uns, das herkömmliche Verständnis von Urbanität zu überdenken, eine Urbanität, die definiert ist durch die Akkumulation und die Dichte des sozialen Raumes inklusive einiger minimaler Regeln der Orientierung und Steuerung.

Der Prozess der Beteiligung: In der Entstehung einer informellen Stadt ist eine starke Interaktion zwischen den menschlichen Aktivitäten und der räumlichen Umgebung zu beobachten, in der Dienstleistung und eine Infrastruktur entstehen, und die „Straße“ wird als Verlängerung des privaten Raumes genutzt. Die Strategien der Konfiguration des bewohnbaren Raums beinhalten eine große Beteiligung der betroffenen Bevölkerung und eine komplexe Interaktion zwischen räumlichen und sozialen Aspekten.

Räume ohne Hierarchien: Der Raum informeller Besetzung ist immer eine Umgestaltung: Unterteilung von Boden, Nutzung, Infrastruktur und die Beziehnung Öffentlich-Privat. Er zeigt ein hohes Niveau der Anpassungsfähigkeit. Die spezifischen Formen der Besetzung von Parzellen und die Versorgung mit Dienstleistungen und mit Infrastruktur ersetzen die traditionellen Hierarchien, die in der formellen Stadt herrschen.

Ziele der städtischen Strukturationsprojekte

Es ist das Wichtigste, das Nutzungsrecht der Stadt für alle Bewohner zu demokratisieren. Die geteilte Stadt – das „Stadtdefizit“ in den Bastionen der Armut und anderswo – zu bekämpfen. Es ist notwendig, den Zusammenschluss der Stadtstruktur zu einem Ganzen zu fördern, die Bewohner nicht zu vertreiben, um die bestehenden sozialen Bindungen nicht zu zerstören, und die Entstehungsgeschichte jedes spezifischen Ortes und die Investitionen von jedem einzelnen Bewohner als persönliche Anstrengung zu respektieren. Von da aus die kulturellen, ökologischen Aspekte wie auch die Belange an Sicherheit der Bewohner zu artikulieren, einen neue Art der Bürgerschaft für diese enorme Bevölkerung zu garantieren, den Widerspruch zwischen Formell und Informell aufzulösen und zu versuchen, die Unterschiede zu vermitteln, so wie Verbindungspunkte, städtische Übergangsorte zu schaffen.

Die verwendete Analysemethode impliziert, die Analyse als Projekt zu verstehen. Sie regt eine Methode an, die voraussetzt, über Identität nachzudenken, und dabei versucht, die verschiedenen Charaktere freizulegen und räumliche Eingriffsschneisen vorzuschlagen. Sie beinhaltet die Anneignung der Konzepte von Jacques Derrida, die auf die Strukturierung der Informalität angewandt werden. So wird eine genealogische Annäherung an den Ort erreicht. Es handelt sich um die Untersuchung des Konfigurationsursprungs und der Neubearbeitung der Konzepte, die die Komplexität der Variablen im Spiel bedenken. Diese Methode beinhaltet das Wissen, um zu handeln, nicht nur um zu verstehen, und lässt den Ort erkennen, seine Möglichkeiten und seine Beziehung zur Stadt.

Daher beinhaltet die Arbeit drei wesentliche Aspekte:


Auf die Wünsche hören: dies ist eine zentrale Frage, die sich ebenso auf die individuellen wie auf die kollektiven Bedürfnisse bezieht. In der Psychoanalyse geht es nicht um die Beantwortung der Fragen, sondern um die Interpretation (der Wünsche) in einer stichhaltigen Art und Weise, die die Zerschlagung des Knotens zwischen der Ethik (dem, was getan werden muss), der Ästhetik (der Herausforderung des Neuen) und dem Politischen (den stets komplexen Beziehungen mit den Strukturen der Macht) erfordert.


Die Psychoanalyse warnt uns vor der ethischen Frage in Bezug auf jegliche Art der (ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen etc.) Konditionierung. Der „Planungsakt“ impliziert eine (ethische) Position, die wie folgend zusammengefasst werden kann: Es ist notwendig, das zu tun, was getan werden muss. Aber dieses „Muss“ ist nicht von moralischer oder gesetzlicher Natur. Es ist ein Muss, das stets ein über die „Wünsche“ hinaus enthält. Aus diesem Grund geht es nicht darum, in Form von Verführung oder Harmonie zuzustimmen. Das ist sowieso nicht die wesentliche Frage. Man könnte sagen, dass die Ethik eines Architekten eng verbunden ist mit dem Unantastbaren, das sich aus dem Zusammenhang zwischen den Projekten und den Intentionen entwickelt. Es ist daher notwendig zu wissen, dass die Interpretation der Wünsche impliziert, über die Aussagen hinaus zuzuhören, in dem man einen Unterschied zwischen den latenten und den ausdrücklichen Wünschen macht.
Ausarbeitung des Lesemusters der Ortstruktur: Diese Lektüre beginnt mit der Neuentdeckung der Umgebung mitsamt seinen Zwängen und seinen Möglichkeiten. Sie schließt das Anhören der Wünsche der Bewohner und das Befragen der Ansprechpartner in der Umgebung sowie die Suche nach der Handlungszone mit ein. Es ist eine multidimensionale Lektüre, die die internen Verbindungen und die offensichtlichen und verborgenen Zentren erfasst sowie die Verknüpfungen mit der Umgebung und die Zugangsmöglichkeiten beachtet. Diese Lektüre erfasst unter anderem die inneren Leerräume sowie die der Umgebung, außerdem den Grad der Gemeindeorganisation, die handwerklichen Fähigkeiten sowie die Bedingungen der Landschaft, die im Ort und in der Umgebung.

Formulierung des urbanen Plans: Eine allgemeine Kohärenz, die das Räumliche mit dem Sozialen, dem Ökologischen und der Sicherheit verbindet, muss hergestellt und auf die Realisierbarkeit der Vorschläge muss geachtet werden. Der urbane Plan präzisiert die vorgesehenen juristischen Maßnahmen, definiert die Neuformulierung von Zugang und Zirkulation und setzt Expansionskontrollen ein. Er verbindet Innerkommunales (Articulation intra secretarias) mit staatlichen und föderalen Instanzen und verstärkt die existierenden Zentren, indem er neue Knotenpunkte schafft. In dieser Phase zeigt sich auch die Realisierbarkeit der von öffentlichen und privaten Akteuren vorgeschlagenen Interventionen.

Die Stadt Gottes (Cidade de Deus)

Ein Kommentar zum Film, der für 4 Oscars nominiert wurde und dessen Hauptprotagonist der Ort selbst ist.

Dieser Film hatte eine doppelte Wirkung. Einerseits zeigt er das Problem der sozialen Ausgrenzung, speziell in Brasilien, aber darüber hinaus die Ausgrenzung in ganz Lateinamerika. Andererseits hat er in signifikanter Weise zur verstärkten Stigmatisierung der Bevölkerung dieses Stadtteils Rio de Janeiros beigetragen. Und zwar in einer Weise, dass die Bewohner von Cidade de Deus überhaupt keine Sympathien für diesen Film haben.
Sie klagen ihn im Gegenteil an, das negative Bild dieses Ortes zu verstärken, da, wenn man ein Mal die Favela besucht, man merken wird, dass die Atmosphäre überhaupt nicht der des Filmes entspricht. Nach dem Film ist CDD ein Ort, in dem Menschen ohne Ehre, ohne Projekte, ohne Zukunft wohnen, ein Ort der Verzweiflung. Aber wie wir sehen werden, ist die Realität anders. Die Bewohner von Cidade de Deus sind stark politisiert und organisiert (das kommunale Gremium setzt sich aus 17 Einheiten zusammen) und arbeiten mit Unterstützung von zahlreichen öffentlichen und privaten Organisationen und Institutionen.

Die Vorstellung einer Insel, vom Rest der Stadt abgeschnitten, entspricht nicht der Wirklichkeit. Interaktionen mit den unterschiedlichsten Einrichtungen sind im Gegenteil ein wichtiges Merkmal, das sehr gute Bedingungen für die Entstehung zahlreicher Projekte zur kulturellen und ökonomischen Interaktion schafft. So organisiert CDD mit Hilfe von Architekten seine Umwandlung in ein Projekt städtischer, sozialer, ökologischer Artikulation, sowohl was die interne Strukturierung betrifft als auch die Verbindung mit der Umgebung, insbesondere mit einem Stadtviertel Rio de Janeiros, das gerade in enormem Wachstums und Wandlung ist: La Barra de Tijuca.

In 1,5 km Entfernung von Cidade de Deus ist außerdem die panamerikanische Stadt für die olympischen Spiele 2007 in Bau. Ein weiterer sehr wichtiger „Nachbar“ ist das machtvolle SESC (die Sozialbehörde des Handels), deren riesige Einrichtungen an diese große Favela angrenzen. Und es gibt weitere potentielle Partner, die das Verbindungsprojekt durchsetzen helfen. All diese aktiven Netzwerke realer Menschen werden durch die gefährliche Vereinfachung und den Fatalismus, den der Film durch seine Beschreibungen des Ortes hervorruft, vergessen. Ein signifikantes Merkmal, dass in Bezug auf Cidade de Deus beachtet werden muss, ist, dass sie ursprünglich keine Favela war, sondern eine „Wohneinheit“. Ein Euphemismus für einen Wohnkomplex ohne Qualität, wie er im ganzen Land von staatlichen Institutionen für die ärmsten Schichten der Bevölkerung gebaut wurde, mit einer Vision der kurzfristigen Lösung der Probleme.

Cidade de Deus mit ca. 65.000 Einwohnern war in den 60er Jahren ursprünglich eine Ensemble von Wohngebäuden für die Bewohner der in den noblen Vierteln gelegenen Favelas (z.B. das „Lagoa“) ohne städtische Dienstleistungen oder Einrichtungen, die an die Peripherie vertriebenen wurden. Es wurde argumentiert, die von den Favelas besetzten Gelände seien zu „säubern“ und für die formelle Stadt „zurückzuerobern“, wo sie bis auf wenige Ausnahmen, in die Hände von Immobilienspekulanten übergingen.

Das Projekt der Verknüpfung des Städtischen mit dem Sozialen verortet die Ereignisse, konfiguriert neue Zentren und definiert, angefangen beim Dialog mit der Kommune, durch das Hören auf die Wünsche und Forderungen neue Programme, ohne das Kosten–Nutzen–Verhältnis zu vergessen. Das Projekt vereinfacht die Verhandlungen mit den staatlichen Institutionen, wie auch mit den privaten Initiativen und den zahlreichen Organisationen und Institutionen, die auf lokaler Ebene wie darüber hinaus agieren.

Das konkrete Projekt in CDD (an dem ich mit meinem Büro beteiligt bin) schlägt vor, die bestehenden Zentren zu stärken, neue Räume des assoziativen Lebens zu schaffen und den Keim eines städtischen Lebens durch drei neue Wohnblocks samt Geschäften zu säen. So können 600 Familien, die in einer sumpfigen Gegend unter sehr prekären Bedingungen wohnen, dort hinziehen. Diese neuen Häuserblocks wurden nach einem urbanen Konzept, mit möglichen Erweiterungen der Wohneinheiten entwickelt. Diese Häuser basieren auf einem anfänglichen Wohnkern von 32m2, der architektonisch und stadtplanerisch so entworfen wurde, dass die Bewohner ihn langfristig nach ihren Bedürfnissen und ökonomischen Kapazitäten ausdehnen können.

Dieser Teil des Projekts ist wichtig, denn er erlaubt es, städtebauliche Bedingungen von allgemeinem Interesse für die Stadt mit der Beteiligung der Bewohner zu verbinden, ohne die Qualität des öffentlichen Raumes zu beeinträchtigen.

Die staatlichen Behörden haben eine spezielle und spezifische Verantwortung im Bereich der Stadtplanung und des Wohnungsbaus. Sie müssen Bedingungen für Projekte schaffen, die in der Lage sind, geltende – grundsätzlich quantitative – Paradigmen zu Gunsten eines anderen Paradigmas auszutauschen, das die Lebensqualität und die Langlebigkeit der Projekte miteinbezieht und eine neue Beziehung von Mensch und Umgebung fördert.

Es ist notwendig, über die klientelistische Politik hinauszukommen, was bedeutet, Netzwerke des Handelns zu suchen, und das bedeutet, mehrere Wege auswählen zu können. Die Kultur der Netzwerke setzt eine horizontale Integration voraus, die im Gegensatz zur Pyramide steht. Dazu wird eine Neudefinition der Beziehungen zwischen der Ethik (Verstanden als „Tun, was getan werden muss“), der Ästhetik (was die Ausarbeitung der architektonischen Schrift betrifft) und der Politik (die immer komplexen Beziehungen mit den Machtstrukturen) benötigt, bei der gleichzeitigen Einbeziehung der drei Ökologien: Der Mentalen (Entgiftung der Denkkonzepte), der Sozialen (Überprüfung der Gesamtheit der sozialen Beziehungen, des „socius“) und der Umgebungsökologie (alles, was die Haltbarkeit der Interventionen betrifft).

Der Architekt in einem Umfeld „komplexer Ungewissheit“

Warum bietet der urban tätige Architekt eine Möglichkeit zur politischen Verknüpfung des Raums und beteiligt sich in diesem Sinn am Kampf gegen das urbane Trauma? Weil er die Rolle des Konfliktkartographen und des Mängelaufdeckers spielt. Gleichwohl ist der Architekt hauptsächlich mit der Frage des Raums beschäftigt.

Demnach stellt sich die Frage: Wie schafft man einen Fokus? Wie lässt sich eine projektbezogene Annäherung verwirklichen? Wie nähert man sich ihm aus einer anderen Perspektive?

Der Ort und die Wünsche sind heutzutage viel „explosiver“. Es geht um die Karte einer Stadt, die öffentliche wie private Akteure benötigt. In diesem Sinn beruht die Lösung zweifelsohne auf einem interdisziplinären Ansatz der verschiedenen Faktoren, verbunden mit einer effizienten Koordinierung der verschiedenen Sphären der öffentlichen Macht, sowie auf einem Zusammenspiel der Kräfte, die in der Lage sind, teilzunehmen und zu helfen, Programme lebensfähig zu machen, und auf einer sozialen Mobilisierung, in der die Medien eine wesentliche Rolle spielen. Weil es notwendig ist, eine offene Debatte zu fördern, die versucht in jedem Gebiet und jedem Aspekt der Probleme Vorurteile und vorgefasste Positionen zu eliminieren, und so eine mentale Ökologie ermöglicht.

Landkarten des Überlebens

Was ist die Landkarte des Architekten? Was ist seine Geografie? Wie muss eine Landkarte zusammen- und auseinandergefaltet werden? Der Architekt darf keine Angst vor dem Krieg haben. Auch nicht, wenn die bürgerliche Stadt Vorrichtungen der Selbstisolierung, der geschlossenen Viertel und Siedlungen, der privaten Straßen, der militärischen und symbolischen Vorrichtungen der Ausgrenzung enthält, die die Kriegsmetaphorik verstärken. Viele der heute explosiven Probleme wurden in Lateinamerika bereits von den kolonialen Herrschern geschaffen. Es geht um Bio-Politik (d.h. die Nicht-Unterwerfung unter die herrschende Logik) gegen Bio-Macht – die Macht der Netzwerke, da die Institutionen die Kontrolle auf Grund der Komplexität der Probleme nicht mehr sichern können.

So ist der Architekt im heutigen städtischen Drama ein Körper, der den Risiken ausgesetzt ist und der lernen muss, sich zu teilen und sich zu verdoppeln. Der lernen muss, die Landkarte der Risiken zu zeichnen, sowie von Innen nach Außen zu spielen. Und der lernen muss Strukturierungsprojekte, die die Stadt als Ganzes betrachten, zu formulieren, und diese mit punktuellen, konkreten und sofortigen Maßnahmen zu verbinden. Dies beinhaltet, die Struktur des städtischen Traumas zu erfassen.

Der Wohnungsmangel und der Anstieg der sozialen Spannungen in den Metropolen

Aus stadtsoziologischer Sicht ist der Wohnungsmangel einer der traumatischen Faktoren, die wesentlich zum Anstieg der sozialen Spannungen in den Metropolen, nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika, beitrugen. Während die Bevölkerung im Zentrum Sao Paulos um 1% pro Jahr anwächst, beträgt der Wachstum der Außenbezirke und seiner „neuen Grenzen“ 12% im Jahr. In Rio de Janeiro sind die Einwohner der Innenstadt sowie der zentralen Viertel der formellen Stadt zwischen 1980 und 2000 um nicht mal 10% gewachsen, während die Bevölkerung der Favelas zur selben Zeit von 720.000 auf 1,1 Millionen gestiegen ist. Man weiß, dass die Situation des informellen Wohnens in allen Metropolen zunimmt und ein Szenario hoher sozialer Risiken schafft.

Rio de Janeiro ist dafür ein Beispiel.

Der Wohnungsmangel ist – neben dem fehlenden Anschluss an die Abwasserversorgung und dem Mangel einer wirkungsvollen Politik zur Beschaffung von Arbeit und Lebensgrundlagen, dem Fehlen von das gemeinschaftliche Leben fördernden Räumen und einer wirksamen Sicherheitspolitik – eine direkte Ursache für die städtische Gewalt, die ein Hauptproblem in den Metropolen ist, in denen die unterschiedlichen sozialen Schichten sehr nah beieinander, in Rio buchstäblich übereinander, wohnen.

Heutzutage fehlen in Brasilien auf dem Land 2,2 Millionen Wohnungen, ohne die 1,4 Millionen registrierten Wohnungen in den Favelas miteinzubeziehen. Diese bilden 33% des Defizits an neuen Wohnungen und 82% des Defizits an stadtplanerischen Erfordernissen.
Insgesamt erreicht der offizielle Wohnungsmangel in Brasilien die sehr bedenkliche Zahl von 6,6 Millionen Wohnungen. Damit direkt verknüpft ist eine erhebliche Umleitung der Finanzströme, die vom RGTS-Fond (Fondo de garantia del trabajador) den wohlhabenden Schichten zugute kommen.

Die aktuelle politische, ökonomische und soziale Situation bietet jedoch die Möglichkeit, Lateinamerika neu zu denken und zu entdecken, wie unsere Länder dauerhaft ihr demokratisches System behaupten und neue Wachstumsprozesse erzeugen können.
Man weiß, dass die Frage des Wohnens neben den Fragen der Umwelt und des Verkehrs eines der städtischen Probleme ist, die auf nationaler Ebene gelöst werden müssen. Und der Wohnungsmangel befindet sich ohne Zweifel im Zentrum der urbanen Frage, weil er, in einem Land, in dem der „formelle“ Immobiliensektor gerade mal 20% der Wohneinheiten umfasst, große Teile der Bevölkerung aus dem Zentrum der Gesellschaft ausschließt.

Die Urbanisierung der Metropolen Brasiliens wie ganz Lateinamerikas ist durch die Schwächung des Zentrums mitsamt einiger traditioneller Stadtviertel zu Gunsten einer schnellen Expansion der Peripherie und der neuen Stadtgrenzen gekennzeichnet.
Deswegen muss eine nachhaltige Wohnungsbaupolitik fokussiert sein auf eine multidisziplinäre Perspektive, die in der Lage ist, das Makro der sozialen städtischen Entwicklung mit dem Mikro zu verbinden, d.h. mit lokalen Aktionen, die auf die größten Notfälle antworten, indem sie den Bedürfnissen zuhören, und die zum Ziel haben, die geteilte Stadt zu vereinen.

Es ist offensichtlich, dass die heutigen Bedingungen eine radikale Umwandlung benötigen, die es ermöglicht, die extrem ungerechte und besorgniserregende Situation, in der wir uns befinden – in der ein Typ der Verstädterung außerhalb jeglicher Kontrolle einen „explosiven Urbanismus“ determiniert –, zu verändern.


Croquis Rio de Janeiro, Jorge Mario Jáuregui

Hanna Mittelstädt