Favelas
Die Humanisierung der Stadt: Die Arbeiten von Jorge Mario Jáuregui in den Favelas von Rio de Janeiro

 

 
 

So stolz die Bewohner von 'Fernão Cardim' und 'Vidigal' auf die Sanierung ihres Quartiers auch sind, so wenig werden sich die erzielten Fortschritte dem Besucher erschließen. Auf den ersten Blick steht man dort auch heute noch vor jenen für Rio de Janeiro typischen, auf besetzten Boden und im Selbstbau errichteten 'Favelas'. Doch man irrt. Wie der Vergleich mit der Situation vor der Sanierung bestätigt, kann von einer städtebaulich und baulich chaotischen, ja gefährlichen, vor allem aber hygienisch dramatischen Situation nicht mehr die Rede sein. Im Gegenteil: Kritische Bedingungen sind hier keine mehr auszumachen. Die Genugtuung, mit der die Bewohner ihr Quartier inzwischen nicht mehr als 'Favela', sondern als 'Bairro', als 'normales' Wohnviertel eben, bezeichnen, ist also begründet.

Dieser Meinung muss auch die Jury des 'Veronica Rudge Green Prize in Urban Design' gewesen sein, als sie dem für die städtebauliche und architektonische Aufwertung von 'Fernão Cardim', von 'Vidigal' und x weiterer Favelas verantwortlichen Architekten Jorge Mario Jáuregui den internationalen Städtebau-Preis der Harvard University verlieh.

Durch die Auszeichnung ist die öffentliche Aufmerksamkeit nicht allein für das Werk des von Rio aus wirkenden argentinischen Architekten gewachsen, sondern auch für das Programm 'Favela-Bairro' der Stadt Rio de Janeiro insgesamt. Im Vordergrund der Ehrung steht eindeutig die konzeptionelle und gestalterische Leistung Jáureguis und nicht - wie man vermuten könnte - die politische und soziale Bedeutung dieses in dieser Hinsicht zweifellos wichtigen Programms. Wie in den vorherigen Ausgaben hat die Jury - sie tagte dieses Mal unter dem Vorsitz von Rodolfo Machado (Machado and Silvetti Associates, Boston) - auch dieses Mal in erster Linie die planerische und architektonische Qualität der Arbeiten bewertet. Vor Jáuregui waren 1988 Ralph Erskine und Álvaro Siza geehrt worden, 1990 die Stadt Barcelona, 1993 Fumihiko Maki und Luigi Snozzi, 1996 die Stadt Mexiko, 1998 Norman Foster. Gleichwohl war die Leistung Jáureguis nur im Rahmen von 'Favela-Bairro' möglich.

Sein Programm zielt auf die städtebauliche Integration der Slums als Voraussetzung für die gesellschaftliche Integration ihrer Bevölkerung. Im Unterschied zu früheren, ähnlich gelagerten Programmen ist der Abriss der vermeintlich minderwertigen Häuser der Favelas und deren Ersatz durch eine abgespeckte Version der 'bürgerlichen' Architektur der Quartiere ihrer Umgebung aber von vornherein ausgeschlossen. Es geht, im Gegenteil, um die Stärkung und den Ausbau der vorhandenen städtebaulichen und damit auch der sozialen Strukturen. Der respektvolle Umgang mit den bestehenden Bauten ist fester Bestandteil der neuen Strategie.

Am Anfang der Planungsarbeit standen detaillierte Bestandsaufnahmen. Jorge Mario Jáuregui und seine Mitarbeiter führten diese mit einer für soziale Aufgaben in Rio ungewohnten Genauigkeit durch. Aus der Sicht der Architekten musste das so sein, sollten die gewonnenen Informationen doch dazu dienen, das Leben der Menschen in ihren Quartieren zu verstehen. Da ging es um die Art und Intensität der Nutzungen der öffentlichen Räume, darum, in dem baulichen Gewirr Nachbarschaften und Verkehrsverbindungen zu identifizieren, die beliebtesten Orte, aber auch die Problemzonen. Notwendigerweise wurden diese Studien in enger Abstimmung mit den Bewohnern durchgeführt, mit ihren Organisationen der Selbstverwaltung und anderer Interessensgruppen - zu denen in manchen Favelas auch mafiaähnliche Gruppen und Banden von Drogendealern zählen. Eine solche Zusammenarbeit setzte bei den Architekten eine hohe Bereitschaft zum vorurteilslosen Gespräch und soziale Kompetenz voraus.

Erst auf der Grundlage der detaillierten sozialen und physischen Inventare formulierte Jáuregui Vorschläge, wie sich die Lebensqualität der Menschen vor Ort erhöhen lässt. Da ging es auch, aber eben nicht allein um die Pflasterung der Wege, die Errichtung eines Abwassersystems und die Verbesserung der Versorgung mit Wasser, Elektrizität, Telefon etc. Mindestens genauso wichtig erschien es, die Lage, Größe und Form der Plätze, Grünanlagen und Sportfelder zu überprüfen. Gleichzeitig wurden die Führung und der Querschnitt der Straßen optimiert. Schließlich ging es auch um den Ausbau und den Neubau einzelner Gemeinschaftseinrichtungen, von Kindertagesstätten, Schulen, Gesundheitszentren. Letztere wurden, nach Möglichkeit, gezielt als städtebauliche Gestaltungselemente eingesetzt. Für sich genommen erscheinen alle diese Maßnahmen eher klein, in der Summe aber sind sie von großer Wirkung. Abgerissen wurden vorhandene Wohnbauten nur wenn sie die Durchführung dieser Maßnahmen behinderten, und dann auch nur in Absprache mit den Vertretern der Gemeinschaft; in der Regel konnten die Betroffenen vor Ort in Neubauten untergebracht werden.

Jorge Mario Jáuregui ist nicht der einzige Architekt, der im Rahmen von 'Favela-Bairro' tätig geworden ist, er hat das Programm aber mehr als alle anderen geprägt. Er war der erste, der das Innovationspotential der neuen Aufgabe erkannte und planerisch umsetzte. Darauf beruhte sein Erfolg bei den entsprechenden Architektenwettbewerben. Die Anerkennung, die seine Realisierungen unter den Bewohnern wie in den Medien erzielten, kam dem gesamten Programm zugute. Mit jedem neuen Projekt gewann Jáuregui weitere Einsichten in die speziellen Tücken, aber auch in die Gesetzmäßigkeiten und gestalterischen Möglichkeiten der Aufgabe.

Für den Erfolg seiner Vorhaben war die Entdeckung der besondern 'Ästhetik der Favela' und damit verbunden die Fähigkeit, Formen zu finden, die Besonderheiten der Favelas visuell zu unterstreichen, von allergrößter Bedeutung. Bei der 'Ästhetik der Favela' geht es im Kleinen um den Reiz der mit den einfachsten materiellen und handwerklichen Mitteln, im Selbstbau entstandenen Bauten: um Individualität, Vielfalt, Kleinmaßstäblichkeit, Improvisation. Im Großen beruht der Reiz auf die Auseinandersetzung mit den topografisch widrigen Bedingungen - in Rio befinden sich die Favelas sehr oft auf Erhebungen und an steilen Hängen. Wie auf Rhodos, in der Toskana oder in Andalusien, ist bei der Bebauung der Felsen auch hier, an der Bahia de Guanabara, die Wegeführung komplex, ändern sich die Straßenbreiten permanent, sind keine geometrisch regelmäßigen Parzellen und öffentlichen Räume auszumachen, ist die Anpassung an die Topografie alles. Das ist alles nicht zufällig, dem Ganzen liegt vielmehr ein System zugrunde. So ermöglichen die Kleinteiligkeit der Bauten und die geometrische Komplexität des Stadtgrundrisses erst die Nutzung dieses bislang unbebaut gebliebenen und kommerziell nicht verwertbaren Ortes. Wenn sich die schmalen Häuser eng aneinander schmiegen, steil hinauf in den Himmel, der Sonne entgegen wachsen, wo immer es geht in den öffentlichen Raum hinein kragen, dabei sämtliche Standards und Normen missachten, dann weil sich unter den hier vorherrschenden, extremen Bedingungen allein auf diese Art ein gewisses Maß an Lebensqualität herausholen ließ. Wenn sich einem von den Favelas aus so manche der spektakulärsten Aussichten der Felsen und Strände Rios erschließen, dann kann man darin, wenn man will, eine Art äußerst großzügige Prämie der Natur an die mutigen Baumeister sehen.

Schönheit dürfte den Menschen beim Bauen zwar kaum ein erklärtes Ziel gewesen sein, unbeeindruckt lassen die von dem Kampf nach Raum, Luft und Licht zeugenden engen Häuserschluchten und kubisch aufsteigenden Baukörper den Betrachter dennoch nicht. Und das, obwohl dem Programm 'Favela-Bairro' enge materielle Grenzen gesetzt sind. Ersetzt werden Bauten seitens der Planer nur, wenn von ihren Mängeln Gefahren ausgehen. Ansonsten bleibt die materielle Qualität der Häuser - wie auch ihre Nutzung und ihr Aussehen - in der Verantwortung der Bewohner. In dieser Hinsicht gibt es auch nach der Sanierung der Favelas baulich wenig zu idealisieren. Die Materialien, aus denen die Häuser bestehen, sind meistens die selben geblieben: verschlissene Schalungsbretter, ramponierte Wellblechplatten, rostige Stahlträger, alte Fensterrahmen und Türen. Nur allmählich werden diese seitens der Bewohner, die sich das leisten können, durch verputzte Backsteinwände und Stahlbeton ersetzt. Beim Umbau und der Erweiterung der Häuser haben sich diese Privilegierten allerdings auf die speziell für den Ort formulierten Bausatzungen zu halten, die das bauliche Miteinander regeln, und deren Einhaltung von der Stadt in Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung der Favelas überwacht wird. Langfristig wird die Leistung der Bewohner gepaart mit einer Einhaltung der Bausatzung dafür sorgen, dass die neuen 'Bairros' auch baulich jene Schönheit versprühen, die schon heute in den städtebaulichen Plänen von Jorge Mario Jáuregui als Keim enthalten sind.

Manuel Cuadra, Frankfurt am Main